Wieso? Weshalb? Warum?


 

"Mama, das konnte ich doch mal selber? Warum geht das jetzt nicht mehr?"

 

Diese Frage stellte Simon das erste Mal daheim. Ich weiß es heute noch wie damals. Er war auf Toilette und brauchte nun Hilfe. Es kamen wohl mehr Erinnerungen. Vielleicht war er nun auch dazu bereit. Bereit die Wahrheit zu erfahren.

 

Gedanken über diesen Moment, hatten mein Mann und ich uns ja bereits gemacht und ebenso psychologischen Rat eingeholt. Dabei wurden unsere eigenen Gedanken bestärkt - keine Lügen und auf Simon´s Fragen eingehen! Dies stand für uns fest.

Keine Lügen...,dass kann bedeuten, nicht alles zu erzählen! Wir stellten uns die Frage: Wie viel Wahrheit verträgt ein Kind? Wie viel Wahrheit kann Simon verkraften? Ärzte und Psychologen sagten uns in Gesprächen, Kinder spüren eh wie schlimm die Wahrheit ist und merken wenn man sie anlügt. Das wollten wir auf keinen Fall. Wir wollten weiterhin auf Vertrauen aufbauen.

Wir hatten wirklich Angst vor diesem Gespräch mit unserem Kind und es macht uns heute noch sehr traurig, wenn wir daran zurückdenken. Julia wusste bereits die Wahrheit. Situationsnah erfuhr sie immer den neusten Stand, weil sie immer alles genau wissen wollte. In der Zeit entwickelte sie eine Stärke, die wir bisher nicht kannten.

 

Anfangs fingen wir damit an, Simon zu erklären, dass da etwas in seinem Kopf ist, was ihn krank gemacht hat. Er tastete auch seine Narben am Kopf ab, weil es juckte und wir erklärten ihm, dass er operiert werden musste.

Simon konnte sich anscheinend an Gespräche zu Beginn seiner Krankheitsgeschichte erinnern. Zumindest wusste er, dass wir bereits darüber gesprochen haben und konnte sich erinnern, dass dieses Ding in seinem Kopf einen Namen hat und wollte ihn unbedingt wissen. "Es ist ein Tumor!" Er fragte: "Aber Tumor bedeutet doch auch 

Krebs? Daran kann ich also sterben?" ...Die Wahrheit: "Ja! Und ja, daran kann man sterben!"

 

Das ist wirklich bitter, grausam... und eigentlich reichen diese Worte nicht aus. Wenn noch irgendetwas heil in mir war, dann ging es zu diesem Zeitpunkt kaputt.

Simon weinte, schrie, weinte, schrie...

Ich weinte und weinte mit ihm und hielt ihn nur fest im Arm. Letztendlich weinten wir zu viert.

 

"Wieso habe ich das?"

"Weshalb muss ich schon sterben?"

"Warum ich?"

 

Antworten darauf gab und gibt es keine!

Wir sprachen darüber zu kämpfen und über Hoffnung.

Die ersten Tage hatte Simon allerdings immer wieder alles vergessen. Das bedeutete für uns, diese Gespräche täglich neu mit ihm führen zu müssen. Das machte es für uns nicht leichter. Nach einiger Zeit merkte er sich Stück für Stück immer mehr. Er fragte aber auch immer detaillierter. Wollte mehr über seine Medikamente wissen. Wollte wissen, ob der Krebs bis in seinem linken Bein ist, weil er nicht mehr richtig Laufen kann.

Etwas später mussten wir ihm auch erklären, dass nicht alles entfernt werden konnte! Nochmal später wollte er auch wissen wieso nicht alles wegging und somit beschäftigten wir uns mit Funktionen des Gehirns. Bei all den Gesprächen haben wir immer dazu erwähnt, dass wirklich niemand Schuld an seiner Erkrankung hat und vor allem Simon selber nichts falsch gemacht hat. 

Leider passieren manchmal sehr schlimme Sachen einfach so...

Somit erfuhr er über einen längeren Zeitraum immer mehr von der ganzen Wahrheit.

 

Eins war schnell klar...Aufgeben kommt nicht in Frage! Simon machte schnell klare Kampfansagen. Er beschimpfte den Tumor auf´s Übelste, machte übertrieben `Freudentänze´ bei jedem Stück nach vorn und lachte den Tumor aus, weil dieser ihn nicht unterkriegen kann!

Simon hatte und hat viel Redebedarf. Jeder, der uns besuchte, bekam seine Geschichte zu hören. Meistens sah die Begrüßung folgendermaßen aus: Simon sagte: "Hallo! Wie geht es dir?" ... "Ich habe zwar diesen Krebs im Kopf, aber mir geht es gut!" Ich glaube die meisten waren erstmal sprachlos oder zumindest sehr erstaunt. Somit ergriff Simon die Initiative und fing an zu erzählen. Er berichtete darüber, was er alles schon gelernt habe, erzählte auch was er jetzt nicht mehr so gut oder momentan gar nicht kann und welche Ziele er habe.

 

Nach ein paar Monaten sagte er mal zu mir: "Stimmt's Mama, der Krebs muss ja wirklich böse sein, denn sonst hätte ich ihn schon besiegt!" Ab da war ihm klar und wir sprachen es aus, der Krebs ist nicht heilbar. Es geht um Leben mit einem Hirntumor.

 

Von Anfang an gab Simon eigentlich genau vor, was er wissen möchte und machte ganz deutlich, was nicht. Simon möchte nie wieder etwas hören, von dem was schon hätte sein können - er fragte uns nur einmal danach. Wie sagt er heute auch noch: "Ich weiß, dass der Tumor nicht heilbar ist und vielleicht deshalb sterben muss. Ich weiß auch, dass er wieder wachsen kann und ich vielleicht nochmal operiert werden muss, aber was sonst noch alles passieren kann, möchte ich nicht wissen!"

 

Simon hat keine Angst vor dem Sterben. Er hat Angst, vielleicht irgendwann nicht mehr mit seiner Familie zusammen zu sein.

Über Sterben und Tod oder eigentlich muss ich sagen, über das Leben nach dem Tod, sprach ich viel mit ihm, wenn er danach verlangte und wir reden auch heute regelmäßig darüber.

 

Die Anfänge waren alles andere als leicht. Wer möchte sich schon mit seinem Kind über Tod unterhalten? Sicher gehört der Tod zum Leben dazu! Das ist uns allen bewusst, auch den Kindern. Aber mit seinem Kind darüber zu sprechen, wie es sein könnte und was es sich vorstellt, wenn es selbst vielleicht sterben muss...ist nochmal eine andere Geschichte!

 

Heute hilft es uns aber sehr. Heute reden wir darüber, weil es für uns dazugehört und ein Stück normal geworden ist. Heute schöpfen wir daraus sogar Kraft. Wir haben eine genaue Vorstellung - unsere Vorstellung. Heute ist für uns klar, wir sehen uns wieder, wir sind immer zusammen und im Himmel gibt es keine Zeit, so dass der, der im Himmel ist, die anderen gar nicht erst vermissen kann und nie alleine ist! Im Himmel gibt es keine Angst, keinen Schmerz, keine bösen Menschen, keine schlimmen Dinge, wie Krieg, Hungersnot...! Im Himmel ist es friedlich! Simon spricht auch viel mit seinem Opa, den er nie persönlich kenngelernt hat, mit meinem Vater. Er gibt Simon unheimlich viel Kraft. Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber für mich ist es, als ob der frühe Tod meines Vater´s, jetzt einen Sinn bekommen hat!

 

Kinder haben nun mal unheimlich viel Phantasie. Simon hat davon extrem viel. Wir lassen seinen Gedanken freien Lauf. Wir hören ihm zu und lassen uns davon auch inspirieren. 

Dabei hat Simon eine unglaubliche Weisheit. Er äußert Gedanken und Meinungen, von denen man sehr viel lernen kann. Viele Menschen zieht er damit in seinem Bann.

 


 

Dies ist der Weg, für den wir uns entschieden haben.

Unser Weg kann aber nur ein Beispiel sein. Ein Beispiel dafür, dass ein Kind sehr wohl mit einer Wahrheit, wie der, sterbenskrank zu sein, umgehen kann.